20-10-2022

Auswahl vom Markt übersehener Qualitätstitel

Value-Aktien können in einer Rezession und angesichts steigender US-Leitzinsen einen „sicheren Hafen“ darstellen, sagt der altgediente Fondsmanager Chris Hart.

    Autoren/Autorinnen

  • Christopher Hart CFA

    Portfolio manager

Seines Erachtens begünstigt die Anhebung der Leitzinsen durch die Notenbanken – angeführt von der US Federal Reserve – zur Bekämpfung der rapide steigenden Inflation Value-Investments. Gleichzeitig dürfte der damit konkurrierende Anlagestil „Growth“ mehrere Jahre lang im Nachteil sein.

Unter Value-Investing versteht man die Auswahl von Aktien, deren Marktbewertung nicht das tatsächliche Potential eines Unternehmens widerspiegelt. Dieser Anlagestil erzielt tendenziell bessere Ergebnisse in einem normalisierten Zinsumfeld, in dem die Kapitalkosten angemessen in den Bewertungen berücksichtigt sind.

Umgekehrt wirft Growth Investing in einem Umfeld niedriger Zinsen typischerweise die besseren Ergebnisse ab. Dieses Muster dominierte an den Aktienmärkten während der Boomjahre, die in der Corona-Pandemie endeten.

„Ich glaube nicht, dass Growth-Investments in den nächsten Jahren wieder die Stärke wie von 2018-2020 erlangen werden. Damals profitierten sie im historischen Vergleich stark von steigenden Bewertungskennziffern und nicht von einer wesentlichen Beschleunigung des Gewinnwachstums“, sagt Chris Hart, Portfolio Manager des Boston Partners Global Premium Equities-Fonds.

„Es wird wieder Phasen einer Outperformance von Growth-Aktien geben, die stark von der US-Geldpolitik bestimmt werden (sog. Fed Put), sobald die Zinsen ihren Höchststand erreicht haben und wieder zu sinken beginnen. Ein perfektes Beispiel dafür wäre, wenn die US-Notenbank die Anhebung der Leitzinsen beendet. Dann wird es wahrscheinlich eine Phase der Outperformance von hochbewerteten Aktien geben, da eine Nullzinspolitik wieder zum beherrschenden Thema wird.“

Nicht nachhaltige Zinspolitik

„So ist der Aktienmarkt konditioniert. Die Nullzinspolitik, die den Anlagestil Growth über viele Jahre begünstigt hat, insbesondere 2018 und 2019, war nicht nachhaltig und wird nicht wiederkehren. Ich rechne damit, dass die amerikanische Notenbank die Leitzinsen auf vielleicht 4,5 bis 5 % anhebt und sie anschließend bei etwa 2,5 % normalisiert. Das entzieht dem Argument für unterschiedslose Investments in langfristige Wachstumsaktien tatsächlich die Grundlage.“

Hart erläutert, dass der Bullenmarkt, welcher die Outperformance von Wachstumsaktien befeuerte, zum Großteil auf steigenden Aktienbewertungen und nicht verbesserten Unternehmensgewinnen beruhte. „Die Bewertungen von bereits hoch bewerteten Aktien zogen weiter stark an. Gleichzeitig gingen die Bewertungen niedrig bewerteter Aktien weiter zurück. Dem lagen keine wesentlichen Änderungen beim relativen Wachstum der operativen Erträge zugrunde“, sagt er.

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Steigende Bewertungen machten den Großteil der Erträge von Growth-Aktien im Zeitraum von 2017-2021 aus.

Quelle: Boston Partners

„Der Anlagestil Growth wird sich schwer damit tun, diese Entwicklung zu wiederholen, bei der sich die Kurse von hoch bewerteten Aktien im Vergleich zu ihren Gewinnen stark von denen niedrig bewertete Aktien entfernten. Die Zinsen werden nicht auf ein Niveau zurückgehen, dass eine solche Entwicklung wieder begünstigt.“

Fehlbewertung der Faktoren Quality und Momentum

Value-Aktien könnten auch als Puffer fungieren, wenn eine künftige Rezession für verstärkte Kursschwankungen sorgt, so Hart. „Definiert man Value-Aktien als Titel mit niedriger Bewertung und überdurchschnittlichen Charakteristika in Bezug auf die Faktoren Quality und Momentum, könnten sie sichere Häfen darstellen“, sagt er.

„Solche Aktien entsprechen genau unseren Investmentstil. Dabei halten wir Ausschau nach Unternehmen, die im Hinblick auf die Faktoren Quality und Momentum fehlbewertet sind. Ihre Bewertungen spielen derzeit bereits die Auffassung wider, dass wir im Verlauf des nächsten Jahres oder der nächsten anderthalb Jahre eine Rezession erleben werden. Diese Aktien spiegeln schon das reflationäre Umfeld basierend auf ihren Kursen wider.“

„Rezessionsbedingt erhöhte Kursschwankungen machen sich bereits bei Aktien mit relativ niedrigen Bewertungen bemerkbar, die in den letzten zweieinhalb Jahren besser abgeschnitten haben als hoch bewertete Titel.“

„So könnte man sagen, dass sie einen sicheren Hafen darstellen, da sie durch ihre Fundamentaldaten und zugrundeliegende Qualität gestützt werden. Und wenn ihr Kursmomentum nicht so schwach ausgeprägt ist, wie das die Marktteilnehmer bei niedrigbewerteten Aktien oft annehmen, und die Bottom-Up-Analyse positiv ausfällt, dann kann man auch von zugrunde liegender Unterstützung für die Bewertungen ausgehen.“

Inflation als Hemmnis

Allerdings könnte die Inflation in Form steigender Inputkosten die Erträge von Unternehmen mit Value-Charakteristik zu schmälern beginnen, da die Gewinnmargen von niedrigbewerteten Unternehmen definitionsgemäß geringer sind.

„Wir müssen aus der Perspektive der Einzeltitelauswahl Vorsicht in Bezug auf die Inflation walten lassen“, sagt Chris Hart. „Wir müssen diejenigen Unternehmen identifizieren, die in einem Umfeld erhöhte Inflation besser zurechtkommen als andere. Dies wiederum muss durch eine Bottom-Up-Analyse untermauert werden.“

„Wir analysieren nahezu 12.000 Aktien. Von daher muss es mehrere 100 davon geben, die von der Inflation nicht so stark beeinträchtigt werden, wie dies allgemein unterstellt wird. Durch die Einzeltitelauswahl können wir Unternehmen mit geringerer Qualität meiden, die gegenüber der Inflation stärker exponiert sind.“

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Krieg zwischen Russland und der Ukraine nicht unterschätzen

Ein weiteres potentielles Hemmnis stellt die russische Invasion in der Ukraine dar. Sie hat an den Finanzmärkten bereits für Turbulenzen gesorgt und die Inflation befeuert, insbesondere bei Energieträgern und Nahrungsmitteln.

„Tatsächlich bin ich überrascht, dass die Märkte nicht heftiger auf die Sprengung der Nord Stream-Pipelines, den Angriff auf die Krim-Brücke oder die Bombardierung von Kiew reagiert haben“, sagt Hart. „Das verheißt nichts Gutes.“

„Die Marktteilnehmer verhalten sich so, als sei die Situation in der Ukraine so wie in Syrien – weit weg und ohne Folgen. Doch tatsächlich ist die Situation sehr ernst, da es sich prinzipiell um einen gefährlichen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen handelt.“

Europäischer Aktienmarkt bevorzugt

In regionaler Hinsicht bietet Europa nach Aussage von Hart im Value-Segment bessere Chancen. In den USA sorgt der Ausgang der Zwischenwahlen zum Kongress für Unsicherheit. Unterdessen erscheinen die Schwellenländer aufgrund der Stärke des US-Dollar unattraktiv.

„Die Aktienbewertungen sind in Kontinentaleuropa und in Großbritannien äußerst günstig – sowohl relativ als auch absolut betrachtet“, sagt er. „Wir finden dort Unternehmen mit ähnlicher Qualität und fundamentalen Charakteristika wie in den USA, sie werden aber auf weit niedrigeren Bewertungsniveaus gehandelt.“

„In den Bereichen Industrie und Nicht-Basiskonsum sind die Bewertungen in Kontinentaleuropa und in Großbritannien auf sehr attraktive Niveaus gesunken. Die Fundamentaldaten dieser Titel sind stabil bzw. verbessern sich. Es ist allerdings das Element kurzfristigen Momentums erforderlich, damit es zu einer positiven Entwicklung kommt. Bis zu diesem Zeitpunkt dürften nach meiner Vermutung noch bis zu drei Quartale vergehen.“

Amerikas EU-Kommission

Im November werden in den Vereinigten Staaten alle Mitglieder des Repräsentantenhauses und ein Drittel des Senats neu gewählt. „Wenn die Republikanische Partei dabei nicht extrem gut abschneidet, wird der US-Aktienmarkt meines Erachtens erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Denn dann würde die Regierung von Präsident Biden über mehr Macht verfügen, um den Regulierungsdruck erhöhen zu können.“

„Die Regulierung unter Präsident Obama und jetzt unter Biden hat sich von ihrer Wirkungsweise als sehr ähnlich erwiesen wie die Europäische Kommission für die EU. Viele Vorschriften werden von nicht gewählten Beamten gemacht, die sich hinter der Regierung verbergen. Kommt es infolge der Zwischenwahlen zu einer Machtteilung im Parlament, wird dies die Märkte insoweit unterstützen, als Washington dann weniger intervenieren kann.“

Meidung der Schwellenländer

Die von China angeführten Emerging Markets galten zwar einst als sehr gewinnträchtig. Ihr Wohlergehen hängt aber vom mächtigen Dollar ab, auf den sich viele Länder bei ihren Einnahmen stützen, sagt Hart.

„Ich bin sehr skeptisch, was die Schwellenländer angeht, insbesondere angesichts der Deglobalisierung und der aktuellen Stärke des US-Dollar“, sagt er. „Die Energiekosten werden für längere Zeit auf höherem Niveau liegen und im Energiesektor spiegelt sich in gewisser Weise die Dollarstärke wider.“

„Zwar könnte man sagen, dass bestimmte Länder von höherem Rohstoffpreisen auch profitieren werden. Sie sollten daher mit den Turbulenzen etwas besser zurechtkommen. Ich glaube aber nicht, dass es in den Emerging Markets so bald wieder solche Chancen geben wird, wie das in den letzten 20 Jahren der Fall war.“

Gesundheitssektor erscheint solide

Auf der Sektorebene sollten Gesundheitstitel, die stark von der Corona-Pandemie profitiert haben, weiterhin glänzen. „Betrachtet man die Veränderung der Bewertungen von Gesundheitstiteln in den letzten 20 Jahren, stellt man wahrscheinlich fest, dass es sich um einen stärker zyklischen Sektor handelt als gedacht“, sagt Hart. „Ich glaube, dass sich der Sektor aktuell in einem zyklischen Aufschwung befindet.“

„Unsere Positionen im Pharmabereich verfügen im Vergleich zu etablierten Medikamenten und Generika über bessere Arzneimittel-Pipelines und werden auf sehr günstigen Bewertungsniveaus gehandelt. Solche Unternehmen kauft man, wenn eine Menge Fragen bestehen, was die Ablösung durch Generika und den Ersatz von Ertragsströmen eines bisherigen Blockbusters durch neu auf den Markt kommende Arzneien betrifft.“

„Die Perspektiven der Gesundheitsdienstleister sind meines Erachtens recht günstig dank verstärkter Konsolidierung in der Branche. Aus operationeller Sicht wird es mehr vertikale Leverage geben und das Gesundheitssystem wird effizienter genutzt.“

Auswahl vom Markt übersehener Qualitätstitel

Unterdessen bedeutet Value Investing nach wie vor, von anderen Marktteilnehmern bislang übersehene Qualitätsunternehmen auszuwählen. „Die Herausforderung besteht darin, die Titel ausfindig zu machen, die vom Markt falsch eingeschätzt werden“, sagt Hart.

„Das Value-Segment bzw. die untere Hälfte der Bewertungsverteilung am Aktienmarkt umfasst zwar auch Unternehmen geringerer Qualität. Das bedeutet aber nicht, dass diese Firmen alle eine niedrigere Qualität aufweisen. Es gibt dort einige echte Schätze zu heben.“

„In Europa bilden sich derzeit erhebliche Value-Chancen heraus. Es wird interessant sein zu sehen, wie schnell sich ein Abwärtstrend bei den Gewinnen in den USA ergibt, da wir das in Europa bereits erlebt haben.“

„Wir verfolgen weiterhin denselben Ansatz unabhängig vom Marktumfeld. Ich glaube, dass unsere Kunden diese Beharrlichkeit auf lange Sicht geschätzt haben.“