17-11-2021 · Interview

Talk ‘22: „Wir haben nicht mehr viel Zeit, um Veränderungen vorzunehmen“

Eine globale Pandemie und der Klimawandel haben ESG stärker ins Bewusstsein gerückt, sagt Rachel Whittaker, Head of SI Research. In unserer Interviewserie zum Ausblick für 2022 beantworten Experten von Robeco fünf wichtige Fragen zu ihren jeweiligen Anlagebereichen.

Talk ‘22: „Wir haben nicht mehr viel Zeit, um Veränderungen vorzunehmen“

Auf welche große Sache sollte man 2022 achten?

„Für nachhaltig anlegende Investoren und für alle Investoren und Branchen im Allgemeinen wird die anhaltende wirtschaftliche Erholung von der Pandemie im Jahr 2022 natürlich ein zentrales Thema sein. Für nachhaltiges Investieren lautet eine zentrale Frage, ob das Bewusstsein für Nachhaltigkeit und die Forderungen, entsprechend zu handeln, (was sich in den beispiellosen Mittelzuflüssen in nachhaltig investierende Fonds in den letzten beiden Jahren widerspiegelt) weiter zunehmen werden. Die Ergebnisse der COP26-Klimakonferenz werden dabei hoffentlich eine wichtige Rolle spielen. Wir werden uns ansehen, welche Verpflichtungen die Regierungen weltweit eingehen, und vor allem, ob sie tatsächlich Maßnahmen ergreifen, um diese Verpflichtungen im Jahr 2022 umzusetzen.“

„Wir haben jetzt erst die Hälfte der Konferenz hinter uns, und auch wenn es einige positive Anzeichen gibt, bleibt noch viel zu tun. Ohne eine weltweite Einigung wäre zwar nicht alles verloren, da mit lokalen Maßnahmen und Basisbewegungen viel erreicht werden kann. Realistischerweise brauchen wir aber einen globalen Konsens, um bis 2050 bedeutende Veränderungen herbeizuführen. Andernfalls wird sich der Schwerpunkt in den kommenden Jahren ganz auf Anpassung verlagern müssen, weil wir unsere Chance, den Klimawandel zu bremsen, nicht genutzt haben. Ich bin zuversichtlich, dass sich etwas ändern wird, aber der Zeitrahmen wird entscheidend sein.“

„Mit Blick auf die Umwelt bleibt uns nicht mehr viel Zeit, für Veränderungen zu sorgen. Und die Änderungen, die wir vornehmen, müssen bedeutend und schnell sein; d. h., sie werden sich sowohl auf einzelne Unternehmen als auch auf ganze Branchen auswirken. Das sollten Anleger unbedingt im Auge behalten.“

Was ist die größte Veränderung, die Sie seit dem Beginn der Covid-19-Pandemie beobachtet haben und die auch 2022 noch nachwirkt?

„Den größten Wandel hat es meiner Meinung nach im gesellschaftlichen Bewusstsein für Nachhaltigkeit gegeben. Wir haben sehr schnell gesehen, welche positiven ökologischen Auswirkungen mit einem plötzlichen Herunterfahren der Industrie einhergehen. Viele Menschen erlebten den Verlust von Freiheiten und einen eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung – das sind Dinge, die sie in der Vergangenheit vielleicht oft für selbstverständlich hielten. Das hat zu einem viel besseren Verständnis der sozialen Ungleichheiten geführt, mit denen gesellschaftliche Randgruppen seit vielen Jahren konfrontiert sind. Ich glaube, dieser Wandel in der Denkweise der Gesellschaft ist auch mit der Erkenntnis verbunden, dass wir stark sind – als Einzelne und als Gemeinschaft. Wir können tatsächlich Veränderungen herbeiführen, indem wir Druck auf die Verantwortlichen ausüben. Bewegungen wie Black Lives Matter haben an Zugkraft gewonnen. Wenn wir uns diese Energie und Vision gemeinsam bewahren können, könnte dies in den nächsten Jahren tiefgreifende Auswirkungen haben und für wirkliche Veränderungen sorgen.“

„Während die letzten Jahre eine sehr wichtige Mahnung für uns waren, die soziale Säule von ESG nicht zu vergessen, hat die ökologische Säule meiner Ansicht nach nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. Das ‚E‘ in ESG hat bezüglich der Kapitalanlage schon immer unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil es darüber im Allgemeinen viel mehr Informationen gibt, was es einfacher macht, die ökologische Komponente zu messen und zu quantifizieren, und weil die hier bestehenden Chancen leichter zu erkennen sind.“

Wo weichen Sie mit Ihrem Ansatz oder Ihrer Vision am meisten vom Konsens ab?

„Als Analysten interessiert uns immer am meisten, wo wir vom Konsens abweichen: Was wissen wir, das der Markt nicht weiß? Aus Sicht des Sustainable-Investment-Research ist es sogar noch wichtiger zu verstehen, warum wir eine bestimmte Auffassung zu den Auswirkungen von ESG-Themen auf die Fundamentaldaten von Unternehmen haben; denn es gibt keine standardisierte Methode zur Beurteilung von Nachhaltigkeit. Deshalb haben wir in unserem SI-Research-Team Sektorspezialisten, die dank ihrer Branchen- und Unternehmenskenntnis echte Expertenmeinungen abgeben können und sich nicht nur auf einen standardisierten ESG-Bewertungsrahmen stützen müssen.“

„Das ist ein wesentlicher Unterschied zwischen Robeco und vielen anderen Assetmanagern. Von diesen betrachten viele SI-Research immer noch als eine unterstützende Funktion, wohingegen wir in unserem SI-Research-Team Spezialisten sowohl für Nachhaltigkeit als auch für einzelne Sektoren haben. Unter traditionellen Aktien- und Rentenmarktanalysten oder -Portfoliomanagern ist es inzwischen allgemein üblich zu sagen, dass sie ESG-Kriterien berücksichtigen. Doch in der Praxis ist niemand Experte für alles, und die Vorstellung, dass eine Person alles wissen kann, was sie über jeden Sektor, jede Anlageklasse oder jedes ESG-Thema wissen muss, ist unrealistisch. Dass wir ein Team von Nachhaltigkeits- und Sektorspezialisten haben, gibt uns die Zeit und das Fachwissen, um tiefe Einblicke in nicht-finanzielle Aspekte zu erlangen, welche die zukünftige Ertragskraft und die Zukunftschancen einer Branche bestimmen.“

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Was ist die größte ‚externe‘ Herausforderung oder grundlegende Veränderung im Jahr 2022 (denken Sie an die Politik von Regierungen, an Regulierung, die Notenbankpolitik, die Inflation usw.)?

„Politik und Regulierung werden für große Veränderungen mit Blick auf nachhaltiges Investieren sorgen. In den letzten Jahren hat es auf dem Gebiet der Regulierung in Europa große Fortschritte gegeben im Sinne von mehr Transparenz, besserer Standardisierung und mehr Anlegerschutz; aber es besteht immer noch viel Unsicherheit in Bezug auf die Umsetzung, weil die Bestimmungen viel Raum für Auslegung lassen. Wir beobachten auch, dass andere Regionen ihre eigenen Rahmenkonzepte einführen, was das Risiko einer Unvereinbarkeit verschiedener Rahmenkonzepte mit sich bringt. In der Praxis orientieren sich viele andere Regulierungsbehörden an Europa und an bestehenden, bewährten Rahmenkonzepten, um zu entscheiden, wie sie ihre eigenen Regelwerke gestalten wollen.“

„Meine größte Sorge ist, wie wir sicherstellen können, dass eine zunehmende Regulierung Innovationen nicht im Wege steht und uns nicht davon abhält, uns auf tatsächliche Ergebnisse zu konzentrieren. Das Ziel nachhaltigen Investierens ist es, Veränderungen voranzutreiben. Wir wollen nicht, dass dies zu einer bloßen Regelbefolgung wird, bei der man sich nur auf das Reporting, auf rückwärtsgewandte Kennzahlen oder darauf konzentriert, die richtigen Erklärungen abzugeben. Die Notwendigkeit, Anleger zu schützen, muss mit dem Ziel in Einklang gebracht werden, Kapital in Bereiche zu lenken, in denen es wirklich zur Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung beiträgt. Ich glaube, das kommende Jahr wird hier entscheidend sein, wenn die europäischen Regulierungsbestimmungen wirklich greifen und andere Teile der Welt ihre eigenen Rahmenkonzepte entwickeln.“

Welche persönliche Zielsetzung/Inspiration wird Ihnen helfen, gut durch das nächste Jahr zu kommen?

„Für mich geht es vor allem darum, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wenn wir daran denken, was mein Team macht und welche Ziele wir mit unserem Research verfolgen, könnte daraus sehr schnell ein Zahlenspiel werden, bei dem es nur darauf ankommt sicherzustellen, dass jedes Unternehmen in einem Portfolio eine SI-Bewertung und eine Punktzahl bezüglich der Ziele für nachhaltige Entwicklung hat. Doch dies ginge am eigentlichen Zweck von SI-Research vorbei: Wir wollen zu besseren Anlageentscheidungen gelangen, indem wir unsere Erkenntnisse in die Anlagestrategien von Robeco, in unsere Gespräche mit Unternehmen oder in die von unserem Active Ownership-Team zum Zweck der aktiven Einflussnahme geführten Telefonate einfließen lassen. Wir müssen uns wirklich darauf konzentrieren, Mehrwert für den Investmentprozess zu schaffen und darüber nachzudenken, wie unsere Arbeit zu tatsächlichen Veränderungen beiträgt.“