14-09-2021 · Quartalsausblick

Fixed Income-Ausblick: Tunnelblick

Es gibt zahlreiche Anzeichen für Herdenverhalten und Gruppendenken. Die Anleihen-Community scheint Unaufmerksamkeitsblindheit entwickelt zu haben. Ihr Politikfokus ist veraltet und ihr fehlt ein kohortenbasierter Ansatz bei der Analyse von Haushaltsbilanzen.

    Autoren/Autorinnen

  • Michiel de Bruin - Head of Global Macro and Portfolio Manager

    Michiel de Bruin

    Head of Global Macro and Portfolio Manager

  • Bob Stoutjesdijk - Portfolio Manager and Strategist

    Bob Stoutjesdijk

    Portfolio Manager and Strategist

Vor drei Monaten stellten wir unter der Überschrift Inflations-Hyperventilation die vorherrschende Narrative mit steigenden Anleiherenditen, baissebedingter Versteilerung, langfristiger Inflation und einem nachhaltigen Boom bei Growth-Titeln zum Ende der Pandemie in Frage. Seither sind die Renditen 10-jähriger Treasuries um 25 Basispunkte gesunken (mehr im Vergleich zu Forwards), und die Steigung der US-Zinsstrukturkurve für 5er bis 30er hat 35 Basispunkte verloren. Anfang 2021 merkten wir in „Nur ein weiterer ‚Range Trade‘“ an, dass der Konsens auf Verkäufer- und Käuferseite in diesem Jahr konzentrierter sei als je zuvor. Dieser Konsens könnte unter zusätzlichen Druck kommen, weil derselbe Pain-Trade, die während der letzten drei Monate die Bear-Steepener getroffen hat, immer noch sehr aktiv zu sein scheint.

Die Psychologen Christopher Chabris und Daniel Simons von Harvard und der Cornell Universität haben in ihrem berühmten „Experiment mit dem unsichtbaren Gorilla“ Rolle der Unaufmerksamkeitsblindheit bzw. des Tunnelblicks bei der kognitiven Selektion nachgewiesen. An den heutigen Anleihenmärkten scheint der Tunnelblick zu dominieren: Viele Akteure sind auf ihre alten Treiber fokussiert, anstatt zu berücksichtigen, dass neue Treiber übernehmen könnten.

Was auf Ebene persönlicher Erfahrungen als wichtig eingestuft wird, hat auf volkswirtschaftlicher Ebene nicht unbedingt einen hohen Stellenwert

Beispielsweise erkennen viele Finanzprofis bei ihren privaten Haushaltsausgaben Anzeichen für eine erhöhte wirtschaftsweite Inflation, selbst wenn ihre persönlichen CPI-Körbe im oberen 1 % aller Einkommenskohorten angesiedelt sind. Außerdem sind die Hauspreise in attraktiven Lagen in vielen Volkswirtschaften um 10 bis 20 % gestiegen, während Mieten bei 2 bis 3 % vor sich hindümpeln. Bei Gebrauchtfahrzeugen, bei denen das Umsatzvolumen in den USA um das Dreifache höher ist als das von Neuwagen, sind die Preise nun seit drei Monaten gefallen – was angesichts ihres Beitrags zu den CPI-Jahresvergleichsdaten im Frühjahr sehr wichtig ist. Was Marktexperten in ihrem Privatleben auffällt ist nicht unbedingt ein Faktor auf volkswirtschaftlicher Ebene.

Zweitens haben viele Anleger einen zyklischen Blickwinkel, während längerfristig orientierte Ökonomen wie Stephen King von HSBC und Seth Carpenter von Morgan Stanley kürzlich darauf hingewiesen haben, dass es bei der Inflation Risiken in beide Richtungen gibt.

Und drittens klammern sich einige Anleger bei den Bewertungen immer noch an eine Verbindung zwischen nominalem BIP und Anleiherenditen, obwohl dieses Vorgehen ausschließlich auf Vermutungen basiert. Die These mag in den 1980ern und 1990ern in entwickelten Märkten gut funktioniert haben, in den zunehmend internationalisierten Märkten seit 2011 hat sie aber spektakulär versagt, was auch in den letzten drei Monaten wieder der Fall war. Noch überraschender ist, dass viele das nominale BIP für 2021 oder 2022 im Verhältnis zu den Renditen 30-jähriger Anleihen (die im 2HJ 2051 ablaufen) betrachten und unterstellen, dass es dort eine Verbindung gäbe. Wenn allerdings die Fed nicht bis zum Q4 2022 die Zinsen anhebt (von 0,25 % auf 0,50 %) ist das nominale BIP der nächsten 12 Monate bei direkter Betrachtung für die erste mathematische Preisbildung von Anleiherenditen einfach irrelevant. Andere weisen auf die niedrigen Realzinsen hin, die jedoch – wie Steven Major von HSBC festgehalten hat – nur ein Relikt der von den Zentralbanken beeinflussten Nominalverzinsung und der von den Märkten implizierten Inflationserwartungen sind. Die Kommentare neigen in Richtung Rendite, während die größeren Bewegungen bei den Kurven stattfinden. (Die Lehren der rätselhaften Entwicklung von 2005, mit Kurvenbewegungen in der Frühphase der Expansion, scheinen in Vergessenheit geraten zu sein.) Bei den Laufzeiten schauen viele Beobachter auf das 10-jährige Segment, obwohl die ausgeprägtere Preisbewegung in den USA die Verflachung zwischen 5 und 30 war, und die Asymmetrie am kurzen Ende bei den 2ern. Häufig liegt der Fokus auf US-Verzinsungen, obwohl die Chancen für Kapitalzuwächse in China viel attraktiver aussehen. Am kurzen Ende ist die Asymmetrie in Deutschland wohl ausgeprägter. Marktübergreifende Transaktionen außerhalb der USA sind unserer Ansicht nach ab jetzt die besten Zinspapiergeschäfte.

Tunnelblick auf Tapering

Viertens gibt einen Tunnelblick auf das Tapering: Unseren Analysen zufolge ist der Effekt auf Realverzinsung und Breakevens nicht einheitlich, der Konsens fokussiert jedoch auf Nominalwerte. Die Frage nach dem Tapering, die noch im März wichtig war, scheint heute veraltet zu sein: Sie wurde umfassender angekündigt als im Jahr 2013. Wo werden die Überraschungen liegen? Die Märkte sollten ihre Betrachtung im politischen Bereich ausweiten: das Spiel mit dem Feuer hinsichtlich der näher rückenden Schuldengrenze, die Wahl in Deutschland und die Verengung bei chinesischen Immobilien könnten einflussreicher sein.

Und zum Abschluss Corona: Die Märkte gehen von einer Rückkehr zur Normalität innerhalb weniger Monate aus, trotz Hinweisen unter anderem aus Israel, Schottland und Florida, dass dies alles andere als sicher ist. Beobachtungen werden häufig auf Länderebene angestellt, während die aussagekräftigeren Muster regional sind, insbesondere aufgrund der Staffelung bei der Rückkehr in den Schulbetrieb. Zu Beginn der letzten drei Schuljahre ist es jeweils zu einem Aufflammen der Virusaktivität gekommen. Der Virus könnte also in den Industrieländern entweder in den nächsten Wochen in den Hintergrund treten, oder es wird ein harter Winter. Aber wer könnte eine seriöse Voraussage zu den jeweiligen Verläufen abgeben? Die jüngsten Mühen des Imperial College London mit Prognosen verdeutlichen nur, dass selbst professionelle Epidemiologen extrem sorgfältig zwischen Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten unterscheiden müssen. Dennoch gibt es eine offenkundige Tendenz in der Konsensmeinung: Wir haben während der letzten 18 Monate zwölf Mal gesehen, dass die Annahme einer Rückkehr zur Normalität dominant war, nur um widerlegt zu werden.

Insgesamt scheint die Anleihen-Community Unaufmerksamkeitsblindheit entwickelt zu haben und hält entschlossen an alten Annahmen fest, betrachtet nur eine enge geografische Chancenauswahl, hat einen veralteten politischen Fokus und keinen kohortenbasierten Ansatz bei der Analyse von Haushaltsbilanzen. Es gibt zahlreiche Anzeichen bei der Positionierung für Herdenverhalten und Gruppendenken, und nur selten scheint man etwas von Kindleberger gelernt zu haben.

Denn mit Sicherheit gehen die Risiken nicht nur in eine Richtung. Unserer Meinung nach ist ein breiter angelegtes Szenarienspektrum angemessener. Die Nominalverzinsung von Bundesanleihen könnte im Rahmen der bevorstehenden Wahl in Deutschland immer noch steigen. Auf globaler Ebene könnte der laufende Auffüllprozess in der Produktionspipeline und den Lagerbeständen starke Wirkung haben. In der Unterhaltungsindustrie und Gastronomie steigen die Löhne steil an.

Aktuelle Einblicke zu Unternehmensanleihen

Die Anleihen-Community scheint Unaufmerksamkeitsblindheit entwickelt zu haben und hält entschlossen an alten Annahmen fest, betrachtet nur eine enge geografische Chancenauswahl und hat einen veralteten politischen Fokus.

Weiterer Fokus auf Bewertungen und Positionierung

Wir bevorzugen weiterhin eine konträre und wertorientierte Philosophie, weshalb wir uns auf Bewertungen und Positionierung konzentrieren. Bear-Steepener in den USA beobachten wir vorsichtig. Bei deutschen Bundesanleihen gibt es etwas mehr Bewertungsasymmetrie als Begründung für einen Short, zumindest solange die 10-jährigen Renditen in der Nähe des Einlagenzinssatzes liegen. Unserer Ansicht nach gibt es aber interessantere Risiko-Rendite-Geschäfte als einen einfachen direktionalen Handel von Futures auf Bundesanleihen.

Bei Unternehmensanleihen sehen wir wenig Spielraum für Kapitalzuwachs. Viele High Yield-Emissionen werden zum Call-Preis gehandelt. Investment Grade-Anleihen im Euroraum sind allerdings angesichts der Kaufaktivitäten der EZB weiterhin am besten geschützt. Darüber hinaus gibt es bei Swap-Spreads etwas Potenzial für eine Verengung. Die größte Frage, betont durch die ausgeprägte Volatilität bei Investment Grade-Finanzwerten und High Yield-Immobilienpapieren seit April, stellt sich bei Unternehmensanleihen in China.

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