29-06-2023 · SI Dilemmas

SI-Dilemma: Betrachtung der doppelten Wesentlichkeit in der chemischen Industrie

Investments unter dem Aspekt der doppelten Wesentlichkeit zu beurteilen, ist für SI-Analysten eine tägliche Herausforderung. Dabei betrachten sie, welche Auswirkungen Unternehmen auf die Welt und welche Auswirkungen ESG-Faktoren auf Unternehmen haben. Für Branchen wie die chemische Industrie ist dies wegen der Abwägung komplexer und potenziell gegensätzlicher Wirkungen besonders schwierig. Die öffentliche Meinung über Chemie und die Eignung ihrer Erzeugnisse für den allgemeinen Gebrauch entwickelt sich weiter, was Anlageentscheidungen in diesem Sektor schwierig macht.

    Autoren/Autorinnen

  • Rachel Whittaker, CFA - Head of SI Research

    Rachel Whittaker, CFA

    Head of SI Research

  • Robert Witik - Senior Analyst

    Robert Witik

    Senior Analyst

Nachhaltigkeitswirkung von Chemikalien

Chemikalien sind unverzichtbar für die Herstellung alltäglicher Dinge – von Lebensmitteln über sauberes Wasser und Gesundheitsprodukte bis hin zu Wohnung, Kleidung und vielem mehr. In den letzten Jahren hört man aber anscheinend nur noch von den negativen Auswirkungen chemischer Produkte wie z. B. den Umweltschäden durch „ewige Chemikalien“ wie Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS) sowie Einwegkunststoffe oder von den Auswirkungen von Pestiziden auf die biologische Vielfalt.

Selbst die UN erkennt an, dass „ein erheblicher Einsatz von Chemikalien unverzichtbar ist, um die sozialen und wirtschaftlichen Ziele der Weltgemeinschaft zu erreichen“. Inzwischen sind wir aber an dem Punkt, an dem die Grenzen unseres Planeten für neuartige Stoffe überschritten werden. D. h., wir bringen heute mehr Chemikalien hervor, als die Erde verkraften kann.

Das Problem ist, dass viele nützliche Chemikalien für die Umwelt und die menschliche Gesundheit gefährliche Eigenschaften besitzen und unsere Verwendung dieser Produkte in den letzten 100 Jahren unserem Verständnis ihrer Auswirkungen davongeeilt ist. Mehr als 350.000 synthetische Chemikalien wurden bisher entwickelt, und ihre Produktion wird sich bis 2050 voraussichtlich verdreifachen.

Regierungen auf der ganzen Welt erkennen inzwischen an, dass der Umgang mit Chemikalien und gefährlichen Chemieabfällen stärker reguliert werden muss. Dies wird für die Unternehmen, die sie herstellen und verwenden, erhebliche finanzielle Auswirkungen haben.

Größter Umbruch seit Jahrzehnten

Die 2020 veröffentlichte EU-Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit gilt als größter Umbruch in der chemischen Industrie seit Jahrzehnten. Sie ist Teil des europäischen Grünen Deals, eines Pakets sektorübergreifender politischer Maßnahmen mit dem Ziel eines ökologischen Wandels und der CO₂-Neutralität bis 2050. Zu den Einzelzielen gehören:

  • Verbot besonders schädlicher Chemikalien in Konsumgütern und stufenweiser Ausstieg aus PFAS;

  • bessere Risikobewertungen durch Berücksichtigung der „Cocktailwirkung“ von Chemikalien;

  • Einführung eines einfacheren Verfahrens nach dem Motto: „eine Substanz – eine Bewertung“;

  • Förderung der Widerstandsfähigkeit bei der Versorgung mit wichtigen Chemikalien und ihrer Nachhaltigkeit;

  • weltweite Anhebung von Standards und Investitionen ausschließlich in sichere und nachhaltige Chemikalien.

Die Strategie wird sich auf ein Drittel der allgemein eingesetzten Chemikalien und auf Alltagsprodukte wie Reinigungsmittel, Kosmetika, Farben und Kunststoffe auswirken. Marktschätzungen zufolge werden bis 2040 Produkte im Wert von rund 70 Mrd. Euro, d. h. etwa 12 % des europäischen Chemikalienmarktes, verboten und weitere Produkte neu formuliert oder strenger reguliert werden.

Betrachtung unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit

Wir von Robeco konzentrieren uns bei der Beurteilung der Nachhaltigkeitswirkung eines Unternehmens zunächst auf die inhärenten Auswirkungen seiner Produkte auf die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) und dann – in Einklang mit der EU-Nachhaltigkeitstaxonomie – auf die Auswirkungen seiner Geschäftstätigkeit.

Als positiv bewerten wir Chemikalien, die einen direkten positiven Beitrag zu den SDGs leisten, wie u. a. solche, die für erneuerbare Energien, sauberes Wasser, Medikamente und den Zugang zu nahrhaften Lebensmitteln gebraucht werden. Wir unterstützen auch sicherere Alternativen zu heute verwendeten gefährlichen Stoffen, wie z. B. nachhaltige Landwirtschaft oder Produkte, die recycelte und wiederverwertbare Stoffe enthalten. Chemische Erzeugnisse, die besonders bedenkliche Stoffe enthalten, werden als negativ angesehen.

Erschwert wird die Beurteilung durch mitunter widersprüchliche Auswirkungen, wie z. B. der Einsatz von Düngemitteln zur Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion. Das kann zwar im Kampf gegen den Hunger helfen. Ein übermäßiger Einsatz von Düngemitteln kann aber der biologischen Vielfalt schaden.

Biobasierte chemische Ausgangsstoffe können klimaschädliche Emissionen reduzieren, sich aber nachteilig auf die biologische Vielfalt auswirken – ein als „Lastenverschiebung“ bekannter Effekt. Um diesen Effekt zu minimieren und erhebliche Schäden abzuwenden, bedarf es einer ganzheitlichen Betrachtung aller Auswirkungen – ein Ansatz, den wir mit unserem SDG-Rahmenwerk verfolgen.

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Risikominderung durch Research

Eine zusätzliche Schwierigkeit ist das nur unzureichende Verständnis der tatsächlichen Auswirkungen von Chemikalien. Das abschreckende Beispiel der PFAS macht deutlich, welche unbeabsichtigten Folgen es geben kann. PFAS werden seit den 1940er Jahren weithin in Haushaltsprodukten wie Fleckenschutzmitteln, Farben und Beschichtungen verwendet, um die angestrebten wasserabweisenden Eigenschaften zu verbessern und die Nutzungsdauer anderer Produkte zu verlängern.

Ursprünglich galten PFAS als harmlos. Mittlerweile wissen wir aber, dass ihre Verwendung über viele Jahrzehnte hinweg zu einer Anreicherung in der Umwelt geführt hat. Wie sich dies auswirkt und welche Gefahren für die Gesundheit von Mensch und Tier davon ausgehen, wird immer noch erforscht. Als Analysten wissen wir, dass sich unbeabsichtigte Folgen nicht immer vermeiden lassen. Wir können versuchen, Auswirkungen zu minimieren, indem wir auf dem neuesten Stand der Wissenschaft bleiben und regelmäßig prüfen, ob unsere Beurteilungskonzepte die neuesten Erkenntnisse berücksichtigen.

Zudem arbeiten wir mit führenden Branchenverbänden wie der Chemsec Investor Initiative on Hazardous Chemicals (IIHC) zusammen, die Hersteller anhält, für mehr Transparenz zu sorgen und die Produktion schwer abbaubarer Chemikalien wie PFAS einzustellen. Rund 50 institutionelle Investoren, darunter Robeco, mit einem verwalteten Vermögen von insgesamt 10 Billionen USD, gehören dieser Initiative an.

Betrachtung unter finanziellen Aspekten

Finanzielle und nachhaltigkeitsbezogene Wesentlichkeit sind die zwei Seiten derselben Medaille. Die Auswirkungen eines Unternehmens zu verstehen, ist der Schlüssel, um zu verstehen, wie diese sein zukünftiges Wachstum, seine Ertragskraft und Risiken beeinflussen werden. Bei der Beurteilung von Chemieunternehmen konzentrieren wir uns auf die Auswirkungen ihrer Produkte, verantwortliches Handeln, ihre Klimastrategie und betriebliche Ökoeffizienz – insbesondere im Umgang mit Sondermüll und bei der Unternehmensführung.

Als positiv betrachten wir Unternehmen, die bereits mit dem Ausstieg aus gefährlichen Chemikalien begonnen haben, an sichereren Alternativen arbeiten und ihre betrieblichen Auswirkungen sorgfältig handhaben. Diese Unternehmen werden von Veränderungen in der Branche und in Bezug auf die Marktnachfrage profitieren – ein Trend, der von verbrauchernäheren Unternehmen vorangetrieben wird.

Wir achten auch auf gute Unternehmensführung und Transparenz; denn dadurch können wir das Risiko künftiger Probleme mindern. Unternehmen, die bei der Anpassung an den sich wandelnden Markt hinterherhinken, müssen in Zukunft wahrscheinlich mit höheren Anpassungskosten und Marktanteilsverlusten rechnen.